Ein Auszug aus dem Führer duch das Bild.

Das vollständige Heftchen umfasst 48 Seiten und liegt dem Panorama-Poster bei. Ausserdem gibt es es hier als Download.


Der Uhrenpavillon aus dem Park der Gail'schen Villa in Biebertal. Der farbig geflieste Dachaufbau des schnuckeligen Häuschens wurde 1904 auf der Weltausstellung in St. Louis, USA, bewundert und gewann damals eine Goldmedaille für den schönsten Stand. Als in Dillenburg Anfang des 19. Jahrhunderts ein Tabakmonopol eingeführt wurde, leitete Georg Philipp Gail heimlich eine Lieferung nach Gießen um und gründete hier die Rauchtabakfabrik.

Gleiberg ist die Burg, von der die Besiedlung Gießens ausging: In dem sumpfigen Gebiet der Wieseckmündung floss die Lahn einst so breit, dass man dort furten konnte – lange bevor die erste Brücke gebaut wurde. Doch bei Hochwasser konnte die Lahn ganz gewaltig anschwellen, und dann kamen die Gleiberger Ritter nicht mehr über die Furt, um ihre Besitztümer südlich der Lahn zu schützen. Also bauten sie eine Wasserburg, die "burc ze din Giezzen" (Zu den Bächen). Um die Burg herum wuchs eine kleine Siedlung, aus der sich die Stadt Gießen entwickelte.

Das Liebig-Museum. Das ehemalige Wachhaus der historischen Seltersberg-Kaserne an der Frankfurter Straße dient heute als Museum für den wohl bedeutendsten Chemiker des 19. Jahrhunderts. Justus Liebig hatte zwar kein Abitur, wird aber dafür sogar bei Jules Vernes "Reise um den Mond" erwähnt. Dort begann das Frühstück der Astronauten "... mit drei Tassen vortrefflicher Bouillon, welche durch Auflösung jenes köstlichen Liebig"schen Fleischextraktes gewonnen wurde ..." Liebig sind noch viele andere Erfindungen zu verdanken, wie z. B. das Backpulver, der Silberspiegel, die verbesserte Elementaranalyse oder die Stickstoffdüngung.

Der Engel. Vor dem Krieg stand über der Engel-Apotheke ein schöner historistischer Engel im neobarocken Stil. Er war aus Zinn gefertigt und vergoldet. Dann kam die Bombennacht vom 6. Dezember 1944, und am nächsten Morgen war der Engel verschwunden. Kein Stückchen von ihm ist je wieder gefunden worden in den Trümmern des alten Gießen – er muss wohl davongeflogen sein. Manche Leute behaupten allerdings, der Engel sei ganz banal geschmolzen. Immerhin habe Zinn ja einen Schmelzpunkt von 232°C, und die britischen Brandbomben hätten mit ihm quasi Zinngießen gemacht. Wie auch immer, in den 50ern wurde ein moderner Engel im Stil seiner Zeit entworfen, und zwar von dem Maler Bartsch-Hofer. Der neue Engel wurde bei Schönwandt in Nordeck in Kupfer getrieben und blattvergoldet. Und für das Panorama-Foto hat er sich mal kurz auf der Post niedergelassen.

Das Liebig-Denkmal. Ein Denkmal aus weißem Tiroler Marmor, das 1890 von den Schülern Liebigs der Stadt geschenkt wurde. Liebig steht dort in stolzer napoleonischer Haltung, den Blick fest in die Ferne gerichtet – wie es sich für einen echten Forscher gehört. Zu seinen Füßen sitzen zwei Frauenfiguren: Minerva und Ceres. Das Denkmal wurde in den letzten Kriegstagen teilweise zerstört, doch damit nicht genug: In den 50ern wurde das Material zum Auffüllen von Bombentrichtern verwendet. Die Reste der Figuren liegen also noch irgendwo unter Gießens Straßen. Das neue Liebig-Denkmal sieht ein wenig makaber aus und besteht aus einer nüchternen Stele, an der nach Trophäenart eine Bronzekopie des Kopfes des alten Denkmals angebracht ist.

Der Schlammbeiser. Früher standen die Häuser nicht Wand an Wand aneinander, sondern es gab oft einen schmalen Zwischenraum. In diesem Freiraum hingen die Aborte, und unten drunter standen große Kübel, wo die Fäkalien reinklatschten. Wenn man mal musste, saß man also praktisch im Freien. Die Gießener waren immer froh, wenn es mal geregnet hat, denn dann wurden die Hauswände endlich sauber. Die Schlammb-Eiser waren Männer mit langen Eisenstangen, mit denen sie die Kübel aus den Lücken rausgezogen und den Inhalt entsorgt haben. Irgendwann wurde dieser Ausdruck zu einem humorvollen Schimpfnamen für die Gießener. Karl Brodhäcker hat sich vor vielen Jahren mit seinem Freund, dem Grafiker und Kunstmaler Willi Weide, zusammengesetzt, um die Figur des Schlammbeisers bildlich darzustellen – heraus kam eine große Lehmfigur, die bei Rinker in Sinn in Bronze gegossen und an Geschäftspartner und andere besondere Menschen verliehen wurde. Axel Pfeffer sähe sie gerne als Statue in der Innenstadt. Abgesehen davon ist der Schlammbeißer auch ein Fisch (Misgurnus fossilis), der mit den Welsen verwandt ist und schlammige Gewässer liebt.

Die Trauernde Witwe. Hier steht ein Denkmal, das an das Gießener Kampfgeschwader 55 "Greif" erinnern sollte. Einige Piloten sollen in der Legion Condor der Franco-Diktatur bei der Bombardierung spanischer Rebellen geholfen haben. Der Bau des Denkmals wurde 1939 unterbrochen und sollte nach dem Endsieg vollendet werden. Da dieser bekanntlich ausblieb, dauerte es bis 1956, bis das Mal durch einen Adler vervollständigt wurde. Unbekannte Kriegsgegner montierten den Vogel in einer Nacht- und Nebelaktion ab, so dass einige Jahre nur der einsame Pfeiler übrig blieb.
Jetzt ist der Adler in einem Gebüsch in der Gegend von Staufenberg wieder aufgetaucht und liegt momentan bei Buderus zum Restaurieren. Vor einigen Jahren beschloss die Stadt, das (Krieger-) Denkmal durch eine Texttafel zu einem Kriegs-Mahnmal umzuwidmen. Vom Künstler Matthes I. von Oberhessen (der Rechte der beiden wilden Gesellen vor dem Stadtkirchenturm) stammt die Idee, diese Umwidmung auch bildlich zu vollziehen, nämlich eben durch die trauernde schwangere Witwe, die (wenn das Geld zusammen kommt) vor der Säule montiert werden würde. Vielleicht klappt es ja, dass das Denkmal eines Tages dem Betrachter selbst die Entscheidung überlässt, wer und was genau Täter, Helden und Opfer sind.
Der Greif-Vogel des Denkmals hat übrigens nichts mit dem Greifen aus dem Gießener Stadtwappen zu tun. Der Greif aus dem "G wie Gießen" ist kein Vogel, sondern ein Fabelwesen aus Löwe und Adler, das im Mittelalter auch als Christussymbol verwendet wurde.

Der Body-Builder Walter Klock ist die Symbolfigur des deutschen Bodybuilding. Seit Ende der 70er lebt er dafür, diesen damals sehr exotischen Sport zu verbreiten. Er gründete den Hessischen Landesverband und träumt davon, dass Bodybuilding eines Tages als Olympische Disziplin anerkannt wird. Das Verfahren läuft, und wir drücken die (kräftigen) Daumen.

Max Hat"s. Gießens legendäres Kiosk, das kurz unter dem unsäglichen Namen "Kiosk am Eck" firmierte. Die Wurstlers punkrockten dazu:

Du isch dereinst die Aache schliese,
will ich begrabe wärn in Giese,
am liebste vornne vorm Max Hat"s,
im Lewwe wars mei Lieblingsplatz.

Das Ideoskop ist ein ausgefuchstes optisches Instrument, das die Vorzüge von Mikroskop, Teleskop und Fischaugenoptik vereint. Es nimmt ein panaspektivisches Bild der Umgebung auf und ermöglicht so Panoramen wie dieses, die die wichtigsten Ansichten einer Stadt nahtlos vereinen.

Die Veterinärmedizin. Im 18 Jahrhundert, in einer Zeit aufstrebender Landwirtschaft und verheerender Viehseuchen wie der Rinderpest, wurde die ernsthaft betriebene Vieharzneykunst allmählich salonfähig. Vorher war sie Sache niederer Berufsstände gewesen, vom Hirten bis zum Henker. Die Gutachter der Preußischen Akademie der Wissenschaften äußerten damals noch, man können den "Professoribus nicht zumuten, im Aas von Tieren zu wühlen". Doch die Gelehrten ließen sich nicht aufhalten. In Gießen wird seit 1777 Vieharzneykunst betrieben, seit 1872 als eigenständige Fakultät.

Der Satellit. EURECA (European Retrievable Carrier) war eine freifliegende, wiederverwendbare Satellitenplattform. Sie trug u.a. Experimente aus dem Strahlenzentrum der Universität, dem zu dieser Zeit einzigen Forschungszentrum der NASA außerhalb der USA (NASA Specialized Center of Research and Training). Eine wesentliche Zielrichtung der Experimente war die Abschätzung des Strahlenrisikos von Astronauten während Langzeitmissionen. Weitere Experimente hatten exobiologische Fragestellungen sowie den Test des am Fachbereich Physik entwickelten Ionentriebwerks zum Inhalt. EURECA wurde am 2. August 1992 von der Raumfähre Atlantis im All ausgesetzt und geriet wegen der Challenger-Explosion unfreiwillig zur Langzeitmission. Erst nach 11monatiger Flugdauer konnte sie vom Shuttle Endeavour wieder eingefangen und zur Auswertung zur Erde zurückgebracht werden.

Der Capoeira-Tänzer. Capoeira entstand bei den Aufständen der afrikanischen Sklaven, die im 16. Jahrhundert nach Brasilien verschleppt worden waren. Jegliches Kampftraining war ihnen natürlich verboten, also tarnten sie ihre Übungen als traditionellen Tanz, bei dem die Kämpfenden von einer dichten Reihe von Zuschauern verdeckt werden. Auf etlichen Höfen gelang die Revolte gegen die weißen Sklavenhalter, und die Geflohenen gründeten eigenständige Siedlungen, die Quilombos, die oft in unwegsamen Gelände lagen. Einzelne befreite Sklaven ließen sich bewusst wieder einfangen, um ihre Künste weiter zu verbreiten und den Widerstand gegen die weißen Herren weiter zu tragen. Am 13. Mai 1888 wurde die Sklaverei in Brasilien endgültig abgeschafft. Heute ist der Kampf-Tanz Capoeira eine Mischung aus Kampf und Spiel und gilt als die nach dem Boxen am weitesten verbreitete, nicht-fernöstliche Kampfform. Und wie man sieht, wird sie auch in Gießen betrieben.

Die Eule thronte einst hoch über der Bismarckstraße auf dem Schlussstein der alten Alten Universitätsbibliothek (s.o.). Heute sitzt sie hinten im Treppenhaus der neuen UB und träumt wahrscheinlich von der frischen Luft auf ihrem alten Stammplatz. Für das Panorama durfte sie mal kurz herauskommen und sich neben einen steinernen Gefährten setzen.

Der Gießener Verkehrsflughafen wurde 1925 auf dem Gelände "Am Stolzen Morgen" in Betrieb genommen, das Empfangsgebäude zwei Jahre später. Die Lufthansa flog von hier aus nach Frankfurt, nach Kassel und runter bis Freiburg und Konstanz. In den 30ern wurde der Flughafen von der Luftwaffe übernommen und ist seit dem Krieg Teil des US-Depots.

Der Schiffenberg mit seinem Kloster. Im ausgehenden 11. Jahrhundert hatte Gräfin Clementina von Gleiberg ein Problem. Ihr Mann, der streitbare Graf Konrad I. von Luxemburg, hatte sich als treuer Gefolgsmann seines Königs Heinrich IV. mit Papst Gregor VII. angelegt. Im Zuge der Auseinandersetzungen gegen die reichbegüterten Klöster um den Erzstift Trier entführte er sogar den Erzbischof selbst und hielt ihn gefangen. Doch die Kirche erwies sich als mächtiger als die weltlichen Herrscher. Wie König Heinrich IV. fiel auch Konrad I. unter den Kirchenbann. Während der König am Ende seinen berühmten Gang nach Canossa machte, brach der Graf zu einer Sühne-Pilgerfahrt bis nach Palästina auf. Die heiligen Stätten durfte er noch schauen, doch auf der Rückreise ereilte ihn am 8. August des Jahres 1086 der Tod – wenige Jahre, bevor Papst Urban II. die westliche Christenheit zur Befreiung des Heiligen Landes von heidnischer Herrschaft aufrief. Die tiefverwurzelte Macht der Kirche zu jener Zeit lässt sich daran ermessen, dass sich die Witwe Clementina noch 40 Jahre später (und längst neu verheiratet) entschloss, dem Erzbistum Trier den Schiffenberg zu stiften, auf dass dort ein Kloster errichtet werden sollte – aus politischen Gründen oder um die Absolution für die Seele ihres ersten Mannes zu erlangen. Doch die Gründung stand unter keinem guten Stern. Die Klostergemeinschaft von Augustinermönchen und dem Chorfrauenstift Cella am Südhang des Schiffenberges endete mit einer Klage vor dem Gießener Schöffengericht, da die Mönche ihren Verpflichtungen gegenüber den Nonnen nicht genügend nachkamen. Es folgten ewige Streitigkeiten und Misswirtschaft. Das Kloster wurde 1323 aufgelöst, da es "jetzt durch Sündenschuld in einen so erbärmlichen Zustand herabgesunken ist, dass in diesem Kloster Gott nicht mehr geehrt, der Gottesdienst nicht mehr gehalten wird, und die Brüder, nachdem sie mit dem Habit auch die klösterliche Zucht abgeworfen, nun wie Vagabunden, unstet, ohne Oberen und fast unverbesserlich außerhalb des Klosters umherschweifen, nachdem sie sowohl die beweglichen, als auch unbeweglichen Güter, die Bücher und heiligen Gefäße und anderes kirchliches Gerät verkauft, zerstückelt, zerstreut, veräußert und zum größten Teil verzehrt haben. Ja, das Kloster selbst, das ehemals ein Haus Gottes und frommer Menschen war, ist durch den Feind der Religion, den Sämann des Unkrauts, ein Gegenstand des Ärgernisses und der Schmach für die Nachbarschaft geworden." So steht es in der Auflösungsurkunde. Das Kloster wurde dem Deutschen Orden gegeben, bis dieser nach fast 500 Jahren von Napoleon aufgelöst wurde. Heute wird das Kloster auf Gießens Hausberg als Erholungs- und Veranstaltungsort von der Stadthallen GmbH verwaltet, und alljährlich findet dort der "Musikalische Sommer" des Kulturamtes statt. Von dem Nonnenkloster ist nichts mehr übrig als ein paar Steine an der Hausener Straße, nur in der Gaststätte erinnert eine Bilderreihe des Gießener Künstlers Bartsch-Hofer an den Aufbruch des Grafen zu seiner Schicksalsfahrt vor fast 1000 Jahren.


 

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Till Schürmann, post@giessenpanorama.de